Dienstag, 6. Februar 2018

Bald geht's los - Vor der Berlinale (4)

Festspielleiter Dieter Kosslick im Gespräch mit dem ZDF

Auf einer Pressekonferenz wurde das Programm der 68. Berlinale vorgestellt

„Wahrscheinlich kommt Ed Sheeran auch“, meinte Festspielleiter Dieter Kosslick betont beiläufig bei der Vorstellung des Berlinale-Programms 2018. „Wer?“, riefen die Kolleginnen und Kollegen aus dem dicht besetzten Saal der Bundespressekonferenz. „Na, ja, die Älteren von Euch kennen ihn wohl nicht, aber er ist der derzeit bekannteste Musiker der Welt und wird seinen Film ‚Songwriter’ vorstellen“, rief Kosslick dann doch recht stolz. Vorher hatte er schon Isabelle Huppert, Joaquin Phoenix, Emily Watson, Bill Murray sowie viele weitere in- und ausländische Filmschaffende angekündigt.
Mit gereizter Stimme fragte eine Kollegin, was er denn täte, wenn eine Frau im Mantel über den roten Teppich käme. Höflich wies Kosslick sie nicht darauf hin, dass Nina Hoss ja im letzten Jahr so erschien, sondern meinte, es gebe keine Dress Code bei den Festspielen: „Die Frauen können ruhig mit flachen Schuhen und die Männer in High Heels kommen, das ist uns völlig egal.“ Und nein, eine Resolution zu #MeToo wolle er auch nicht initiieren, so die Forderung einer anderen Kollegin. Es seien einige Veranstaltungen, unter anderem von Speak Up geplant, in denen es darum ginge, den Umgang mit Sexismus in der Branche zu verändern; das schließe übrigens auch Beratungsangebote für Betroffene ein.
„Wie immer spiegelt die Berlinale die Welt so, wie sie ist“, sagte Kosslick zu den ausgewählten Filmen, „einen roten Faden gibt es aber nicht.“ Auffallend sei das Thema Zivilcourage und es gebe viele Künstlerfilme. In dem Wettbewerbsbeitrag „3 Tage in Quiberon“ zeichne - beispielsweise - Filmemacherin Emily Atef das Lebensdrama Romy Schneiders nach.
Eröffnet wird die 68. Berlinale morgen in einer Woche mit Wes Andersons Animationsfilm „Isle of Dogs“. Dazu sagte Kosslick: Filme können uns helfen herauszufinden, wo wir herkommen, wer wir sind und vielleicht auch, wo wir hinwollen würden, wenn wir die Wahl hätten. Letzteres kann man übrigens auch von Hunden lernen. Wes Anderson lässt nämlich einen Hund die Sache auf den Punkt bringen: ‚Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?’“
Das Heft zur Pressekonferenz ist über 100 Seiten dick, beim Durchblättern wird deutlich, dass der Wettbewerb mit seinen 24 Filmen, davon 5 außer Konkurrenz, wirklich nur die Spitze des Berlinale-Eisbergs ist. 385 Filme werden in einem Dutzend verschiedener Sektionen des Festivals gezeigt,  in denen ebenfalls viele Preise für Kinder- und Jugendfilme, Kurzfilme usw. verliehen werden. Grob gerechnet kann man sagen, dass jeweils ein Drittel der ausgewählten Filme deutsche Produktionen sind und etwa ein Drittel Dokumentarfilme. Frauen und Männer sind noch nicht gleichberechtig vertreten - 37,5% der Filme sind von weiblichen, 59,2 % von männlichen Regisseuren.

FOTO Hw. Kruse

Sonntag, 4. Februar 2018

Im Reich der Sinne - Vor der Berlinale (3)

Aki Sasaki als jugendliche Prostituierte Yasuko

Auf dem Weg zur Bahn drückt mir morgens eine freundliche ältere Frau die Broschüre „Wo findet man die Antwort?“ in die Hand. Achtlos stopfe ich die Druckschrift der Zeugen Jehovas in meinen Rucksack. Heute werde ich restaurierte japanische Pinku-Eiga-Streifen im FORUM ansehen, obwohl ich bis gestern Abend auch noch nicht wusste, was Pinku Eiga bedeutet.
Ich bin begeistert und verstört von diesen schwarz-weiß flimmernden Lichtbildern aus den Jahren 1967 und 1971: Im ersten Film ("Inflatable Sex Doll...") jagt ein cooler Auftragskiller, gerne zwischen Schaufensterpuppen, die Mörder einer schaufensterpuppenartigen Frau, die vielleicht auch seine schaufensterpuppenartige Geliebte gewesen sein könnte. Als er zum Schluss mit ihr im Bett liegt, bekommt sie Risse und zerbröselt unter seinen Händen. Mit verwirrenden surrealen Rückblenden, bizarren Zeitverschiebungen und Softporno-Schnipseln werden diverse Varianten der Geschichte durchgespielt.
Im zweiten Film ("Gushing Prayer") versuchen junge japanische Intellektuelle, desillusioniert von der gescheiterten Revolte, mit ihren Körpern „das Sexuelle“ zu spüren. Sie wollen sich im Gruppensex von der korrupten Welt der Erwachsenen abgrenzen. Jedoch das - vielleicht - schwangere Mädchen Yasuko will das nicht oder schafft es nicht, ihren Körper zu spüren. Während die Jungs die ganze Zeit wie närrisch herumbrüllen, prostituiert sie sich bei anderen Jungs oder mit einem Lehrer, um über Grenzen zu gehen. Auch in diesem Streifen gibt es keine durchgehende Handlung, sondern nur assoziative Bilder, Rückblenden, viele Fragen - und zum Schluss eine endlose Panzerkolonne, die durch die Stadt fährt.
Völlig benommen krame ich die Broschüre der freundlichen Frau vom Vormittag heraus. Aber die Bibel, die als Lösung für die Frage - „Wo findet man die Antwort?“ - vorgeschlagen wird, hilft auch nicht weiter: Pinku-Eiga-Filme zeigen eine düstere Welt ohne Gott, die Menschen sind auf sich geworfen. Niemand hilft ihnen und nicht einmal das böse Gute, geschweige denn das wirklich Gute, kann gewinnen.
Die beiden Filme erinnern ästhetisch an das französische schwarze Kino, den film noir, der 1960er Jahre, jedoch sind sie wesentlich radikaler und nihilistischer. Durch ihre Verrätselung, die kunstvolle Nutzung aller damaligen cineastischen Mittel und vor allem die intensive, sehr weitgehende Erotik wurde Pinku Eiga ein ganz eigenständiges Genre in Japan mit über 5.000 Filmen.
Der bei uns sicher bekannteste erotischste Film Japans, „Im Reich der Sinne“ von Nagisa Ōshima, bewegt sich meiner Meinung nach deutlich in der Tradition dieser Pinku-Filme. Er wurde seinerzeit übrigens auf der Berlinale 1976 bei seiner Uraufführung von der Staatsanwaltschaft als „Pornografie“ beschlagnahmt. Genau ein Jahr später gab das Berliner Oberlandesgericht ihn zur Aufführung frei, weil der Streifen keine Pornografie sondern Kunst sei.

FOTO  © 2018 Kokuei / Rapid Eye Movies


Mittwoch, 31. Januar 2018

Liebe in der S-Bahn - Vor der Berlinale (2)

Paula (Julia Franz Richter) und Mati (Sophie Stockiger)  © NGF/LBF

Auf dem Weg zum Potsdamer Platz. Montagfrüh in der S-Bahn, zwei junge Frauen fangen plötzlich wild an zu knutschen, küssen sich leidenschaftlich. Eine dunkelhäutige Frau mit schwarzen Krisselhaaren und eine blassweiße Frau mit langen rötlichen Wallelocken. Beide trennen sich am Bahnhof Friedrichstraße. In der grauen S-Bahn ein farbenfroher und sinnlicher Abschied wie in einer Filmszene, von der jedoch (scheinbar) niemand Notiz nimmt.
Wenig später sehe ich als ersten Film in der Sektion „Panorama“ den österreichischen Film „L’animale“ von Katharina Mueckstein. Die burschikose, Motorcross fahrende Mati steht kurz vor dem Abitur - ihrer Reifeprüfung - als sie Paula kennenlernt. Sie löst sich aus der aggressiven Jungenclique, in der sie durchaus was zu sagen hat und verliebt sich in die einige Jahre ältere Paula. Aber anders als in der Berliner S-Bahn halten die kümmerlichen Kleinstadt-Machos das gar nicht aus und terrorisieren brutal die beiden Mädchen. „L’animale“ ist ein Film über die Liebe und das Erwachsenwerden und wird auch in der Berlinale-Sektion „Generationen“ gezeigt werden.
Einen Tag lang habe ich letzte Woche in diesem Bereich bereits Kinder- und Jugendfilme gesehen, die sich auf vielfältige Weise mit dem Thema Liebe auseinandersetzen. Sie entsteht behutsam zwischen zwei jungen Menschen in dem sehr langen Road Movie „303“ von Hans Weingartner. Oder die Liebe des 15-jährigen Cobains (im gleichnamigen Film) zu seiner drogensüchtigen, hochschwangeren Mutter ist unerschütterlich, endet aber sehr monströs.
Gut 70.000 meist junge Zuschauer*innen besuchten bei der letzten Berlinale die Reihe „Generationen“, das waren zwanzig Prozent des Gesamtpublikums von 350.000. Eine sensationelle Besucherzahl, wo doch heutzutage die Kids angeblich alle das Kino scheuen. Sensationell auch deshalb, weil die Kids ja Popcorn zum Glotzen brauchen - und das ist auf der Berlinale in allen Kinos verboten. 

Etliche Vorab-Filme der Festspiele werden derzeit im Cinemax gezeigt, in dem ab Mittag noch das normale Kinoprogramm läuft. Man könnte jetzt tatsächlich die Vor-Festspiele mit Popcorn genießen. Aber wer will das schon?

Filmbesprechungen folgen, wenn Sie auf der Berlinale Premiere hatten...


Sonntag, 28. Januar 2018

Filme im Untergrund - Vor der Berlinale (1)


Es regnet in Berlin. Der Potsdamer Platz sieht überhaupt noch nicht nach Berlinale aus, lediglich auf dem Mittelstreifen der Potsdamer Straße bringen Handwerker gerade die ersten Bärenplakate an. Doch im Untergrund gibt es bereits seit einer Woche Vorabaufführungen für Journalisten - im Kino Arsenal 1 unten im Keller des Sony Centers. Die meisten Filme im „Forum“ und einen Tag lang „Perspektive Deutsches Kino“ habe ich verpasst, weil ich nicht früher fahren konnte.
Meine Berlinale beginnt nun mit Dokumentarfilmen von Absolventen deutscher Filmhochschulen in der Sektion "Perspektive Deutsches Kino". Ich finde das Handkameragewackel, die kleinen ungestalteten Bilder und das (meiste) Gequatsche eher nervig. Das sind Filme fürs Fernsehformat, die brauchen kein Kino. Aber viele haben eine, letztlich interessante Perspektive, die Filmemacher und Filmemacherinnen bringen sich selbst intensiv ein: Eine Regisseurin besucht nach Jahren ihren Bruder, der einem rigiden katholischen Orden beigetreten ist („The Best Thing You Can Do with Your Life“), eine Filmemacherin besucht ihre polnische Verwandtschaft und streitet über rechtspopulistische Politik („Impreza - Das Fest“).
Anders als bei der „richtigen“ Berlinale kann man den ganzen Tag lang im gleichen Kino auf dem gleichen Sitz hocken und muss nicht ständig planen, hin- und herrennen, anstehen, schubsen, um den Platz kämpfen... Das entspannt ungemein, aber ich vermisse den immergleichen Berlinale-Vorfilm, in dem sich zu sanfter, elektronischer Musik goldene Bären aus dem glimmerigen Sternenhimmel bilden (Video).



Am nächsten Tag werden kurze Spielfilme präsentiert, die wie Dokumentationen wirken - aber sie sind cineastisch gleich viel interessanter: Ein Mädchen darf mit ihrem Vater in Nordschweden auf die Elchjagd („“), eine junge Frau befreit sich aus der sexuellen Abhängigkeit von ihrem Vater („Verlorene“). Auch heute wieder viele Filme von Hochschulabsolventen, bei denen wie gestern schon die fremden Sprachen mit deutschen Untertiteln auffallen: Schwedisch, Bosnisch, Polnisch, Spanisch. Die Studentinnen und Studenten sehen und drehen europäisch - „Perspektive Deutsches Kino" beinhaltet im Bewusstsein der Jungen deutlich die europäische Perspektive.
Ansonsten frage ich mich, wieso junge Filmemacher (etwa der Neukölner Schule) gerne schlampige Spielfilme mit laienhaft agierenden Akteuren und schlechten, improvisierten Dialogen fabrizieren, um scheinbare Authentizität zu erreichen. Auf uns arme Beobachter wird bei dieser Berlinale sicher noch einiges zukommen. Jedoch ein großartiger Film aus dieser Reihe, in dem alles stimmt, ist Feierabendbier - aber darüber darf ich erst nach der Premiere auf der Berlinale schreiben.
INFO
Die Berlinale ist nicht nur der große Wettbewerb, in dem gut zwei Dutzend internationale Produktionen gezeigt werden. Die dafür ausgewählten Filme kann man nicht vorab ansehen, wohl aber die etwa 400 Filme aus den zahlreichen weiteren Sektionen: „Generationen“ (Filme für Kinder und Jugendliche), „Perspektive Deutsches Kino“, „Panorama“, „Forum“ usw., die parallel zum Wettbewerb laufen.